Freitag, 18. Dezember 2015

Kurzgeschichte: Weihnachtszeit

Ich stand mit meinem morgendlichen Kaffee am Fenster. Die Scheiben waren beschlagen, denn in den letzten Tagen waren die Temperaturen schlagartig gesunken. Nächste Woche soll es bereits zu schneien beginnen, wenn man den Meteorologen glaubt. Ich trank einen Schluck und hing weiter meinen Gedanken über das kalte, unfreundliche Wetter nach. Die meisten Leute freuten sich ja auf die Adventszeit, die morgen bereits beginnen wird, aber ich hatte keine Familie und lebte alleine in diesem grossen Haus. Weihnachten verbrachte ich jeweils mit einer Tiefkühlpizza vor dem Fernseher. Die Restaurants waren alle ausgebucht und überfüllt, dazu kam noch, dass an Weihnachten immer die besten Filme liefen.
Gerade, als ich mich vom Fenster abwenden wollte, sah ich das Kind. Es lief in kurzen, aber schnellen Schritten vor meinem Haus vorbei, der gelbe, verlottert wirkende und ausgebeulte Schulranzen überragte seinen Kopf um einiges und verdeckte von hinten gesehen praktisch den ganzen Körper. "Pünktlich wie ein Uhrwerk", dachte ich. Man konnte sich wirklich auf das Kind verlassen, jeden Tag lief es um Punkt viertel vor Acht vor meinem Haus vorbei. Ausser an den Wochenenden und in den Ferien, versteht sich.
Vor ein paar Tagen habe ich von einer Nachbarin erfahren, dass das Kind nur mit seiner Mutter zusammen lebt, der Vater war vor einigen Jahren an einer Überdosis an Drogen gestorben und hatte einen riesen Schuldenberg hinterlassen. Die Mutter zieht das Kind mit Müh und Not alleine auf, mit ihrer Arbeit als Service-Angestellte verdient sie nur gerade so viel, dass sie sich und ihren Sohn ernähren kann, dass sie die Schulden ihres Mannes jemals abzahlen könnte, hat sie schon lange aufgegeben.
Ich hatte ausserdem erfahren, dass auch dieses Kind Weihnachten als eine grosse Enttäuschung erlebt. Denn ohne Geld gibt es auch keine Geschenke, geschweige denn einen Weihnachtsbaum oder Weihnachtsgebäck. Als ich nun weiter darüber nachsinnte, reifte in meinem Kopf eine Idee.

Am Tag danach stand ich früher auf als sonst, verschob meinen Kaffee auf später und holte eine Kiste aus dem Keller. Sie war bis oben hin gefüllt mit Weihnachtsschmuck, eine Hinterlassenschaft meiner Grossmutter. Kein Schmuckstück glich dem anderen, in der Kiste herrschte ein Wirrwarr aus verschiedenen Farben und Formen. Ich griff nach einem weissen, glitzernden Schneemannanhänger, packte meinen Mantel und meinen Schal und verliess dann mein Haus. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits halb Acht war. Ich beschleunigte meinen Schritt, bis ich das alte, etwas schiefe Haus mit den fehlenden Schindeln erreichte. Vor dem Haus wuchs eine kleine Tanne, welche mir gerade mal bis zum Kopf reichte. Ich suchte mir einen schönen Ast aus und hängte dann den Schneemann daran. Dann lief ich zur anderen Strassenseite, setzte mich auf eine Bank und wartete. Kurz vor viertelvor Acht öffnete sich die Tür des alten Hauses und das Kind mit dem gelben Schulranzen erschien. Zuerst ging es ganz normal in Richtung der Strasse, doch dann schien es den Schneemann entdeckt zu haben. Es zögerte kurz, seine Augen erhellten sich und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Dann ging es auf die Tanne zu, berührte den Schneemann zuerst kurz und drehte ihn dann in seinen Händen. Dann schaute es sich um, so als ob es seine Mutter im Türrahmen des Hauses erwarten würde. Doch als diese nicht da stand, liess es den Schneemann los und verliess das Grundstück in Richtung Schule.

Jeden Tag ging ich nun zum alten Haus und schmückte die Tanne mit einem weiteren Anhänger. Dann stellte ich mich irgendwo in Sichtweite hin und beobachtete das Kind, wie es jedem Morgen mit Freude das neue Stück entdeckte. Doch mit dem steigenden Glück, das mich erfasste, wenn ich das lächelnde Kind mit den leuchtenden Augen erblickte, stieg auch die Trauer, dass das Ganze schon bald vorbei sein würde, denn sobald Weihnachten erstmal vorbei sein würde, würde der Baumschmuck einfach keinen Sinn mehr machen. Um mich von diesem Moment etwas abzulenken, befasste ich mich damit, was ich wohl am Weihnachtstag an den Baum hängen könnte. Etwas Spezielles musste es auf jeden Fall sein. Und am Tag vor Weihnachten wusste ich dann auch was.

Weihnachten stand vor der Tür und somit auch der letzte Tag meines "Adventskalenders". Sorgfältig hatte ich gestern ein Geschenk in silberne Folie eingepackt. Auf einen weissen Zettel, den ich daran hängte, malte ich ein Kind mit einem gelben Schulranzen. Etwas früher als sonst stand ich schon vor der Tanne, die nun reichlich geschmückt war mit allen möglichen Schmuckteilen. Ich legte das Päckchen unter die Tanne und setzte mich wie beim erstem Mal auf die Bank. Obwohl es nun Ferien hatte, kam das Kind pünktlich heraus, um zu sehen, was diesmal am Baum hing. Voller Erstaunen entdeckte es das Päckchen. Sofort rannte es darauf zu, hob es auf, presste es fest gegen seine Brust und rannte gleich darauf wieder zurück ins Haus, laut nach seiner Mutter rufend.

Als die Schule nach den Ferien wieder begann, trug das Kind einen nigelnagelneuen gelben Schulranzen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen